Erfahrungsbericht von Sebastian Wittstock

Kanada

 

„Was lange währt, wird endlich gut!“

Volksweise

 

Über 10 Jahre hegte ich den Traum nach Kanada zu reisen, Land und Leute kennen zu lernen, die unendlichen Weiten zu bereisen, unberührte Natur zu sehen und viel, viel Holz um einen zu haben...

Ich habe Tischler, im südlichen auch Schreiner genannt, gelernt. Spezialisiert auf individuellen Möbelbau, nach Kundenwunsch und in Massivbauweise. Nun schon über dreieinhalb Jahren auf traditioneller Wanderschaft unterwegs, Europa in allerhand Himmelsrichtungen erkundet, ging es Ende August 2016 über den Atlantik nach Calgary. An meiner Seite war Solveig, meine Freundin. Sie hatte von ihrer Uni aus ein Auslandssemester zu absolvieren, das Ende September auf Vancouver Island begann. Sie war es auch, die meinem Traum neue Energie, neue Flügel gab. Und nun standen wir da, inmitten von Calgary Downtown, umgeben von Hochhäusern und Straßenschluchten – in Deutschland ganz vergleichbar mit der Metropole Frankfurt – doch ruht dieser Wohlstand auf den nördlich gelegenen Öl-Sand-Feldern des Staates Alberta. Jedenfalls war schnell klar, dass wir weiter ziehen wollten! So begann unsere Reise Richtung 'Rocky Mountains' schon am nächsten Tag.

 

Der Banff Nationalpark beeindruckte uns mit unendlichen Wäldern, schroffen Felsgipfeln und heißen Quellen. Dort war es auch gleich, wo wir dem Unterschied von deutscher und kanadischer Wildnis gewahr wurden... Es war am Stadtrand von Canmore als wir abends bei anbrechender Dämmerung auf der Suche nach einem Schlafplatz waren. Am Fluss sitzend warnten uns schon Einheimische vor den Bären in dieser Gegend und dass wir nächtliche Wanderungen doch unterlassen sollten. Dankend, doch auch leichtfertig nahmen wir die Hinweise entgegen und gingen weiter den Fluss entlang. Der richtige Schreck ließ jedoch nicht lange auf sich warten! Riesige nasse Tierspuren, die vom Fluss in den Wald führten, kreuzten unseren Weg und ließen unseren Atem stocken. Wir waren da noch nicht richtig aufgeklärt, doch konnten wir mit Sicherheit deuten, dass es sich um Bärentatzen handelte. Strammen Schrittes gingen wir in Richtung Wohngebiet zurück. Zu unserem Glück trafen wir dort auf Oliver, der zur späten Stunde noch an seinem Auto schraubte. Wir durften in seinem Vorgarten unser Nachtlager aufschlagen, unsere Essenssachen in der Garage verstauen und ja, er hatte von dem Bären gehört, der sich an diesem Nachmittag in der Nachbarschaft herumtrieb. Trotz Vorgarten hatte ich ein mulmiges Gefühl in dieser ersten Nacht beim Einschlafen in der 'kanadischen Wildnis'. In den folgenden Tagen gab es dann noch einige Sachen an die man sich erst gewöhnen musste, sei es der Campingplatz mit Elektrozaun drum herum, gesperrte Wanderwege wegen Bärensichtung, bärensichere Abfalleimer oder Vorrichtungen zum Aufhängen von Essenssachen. All dies gab es um mögliche Begegnungen von Mensch und Bär oder auch anderen Raubtieren wie Cougar oder Luchs zu vermeiden. Daran merkte ich, dass im Gegensatz zu Europa oder Deutschland, hier in Kanada der Mensch noch nicht 'Herr über allen Dingen' ist – ein unbekanntes, zunächst beängstigendes aber doch irgendwie auch schönes Gefühl.

Bei einer Wanderung am Lake Louise, einem der Touristenorte im Banff Nationalpark, hatten wir eine flüchtige Begegnung mit Adele. Sie war 70+, in Begleitung einer Freundin und erzählte uns reichlich aus ihrem Leben. Dies war in Kanada meine erste intensive Begegnung mit dem Thema Auswanderung. Adele erzählte, wie sie in den fünfziger Jahren als Kind mit ihren Eltern und Geschwistern mit dem Dampfschiff über den Atlantik gefahren ist. Über vier Wochen hätte das ganze gedauert und es war ein ganz schön großes Unterfangen für die ganze Familie gewesen. Im neuen Zuhause wurde mit den Eltern und Geschwistern immer deutsch gesprochen doch irgendwann hatte sie einen Kanadier kennengelernt und geheiratet. Ihre Kinder hatten kein großes Interesse an der Herkunft ihrer Mutter, erzählte sie, doch ihre Enkel fliegen gerne nach Deutschland und halten den Kontakt zu der Familie, die es noch gibt. Sie selber würde gerne auch nochmal nach Deutschland reisen, doch fühlt sie sich mittlerweile zu alt um so eine Reise allein zu bestreiten – mit ihren Enkeln zusammen war unser Vorschlag.

 

Bemerkenswert sind diese touristischen 'Hot Spots' wie Lake Louise. Es sind einschlägige, repetitive Motive, die man im Internet, Reiseführern oder Prospekten serviert bekommt und die sich einem regelrecht ins Unterbewusstsein einbrennen. Nur selten folgt man der Versuchung diese Orte nicht auf seiner Reise zu besuchen. Das zu recht! Immerhin sind es eindrückliche, oftmals einmalige Naturwunder, sei es als Berg, Fluss, Tal oder bestimmtes Gebiet, die die Menschen(massen) aus aller Welt anzieht. Am Lake Louise konnte ich wunderbar exemplarische Beobachtungen zum Verhalten der Menschen an solch einem Ort machen. Der gängigste Ablauf: mit Auto oder Bus zum See vorfahren, eine Minute Gehweg zur Seepromenade gehen, Kamera mit Selfiestick ziehen und ein Foto von sich und dem Hintergrund machen, vielleicht noch kurz verweilen um dann weiter zum nächsten Motiv. Dieses Verhalten vieler Besucher löste in mir einige Fragen aus. Geht es wirklich um das Naturwunder, was vor einem steht? Wieso nimmt man die ganzen Strapazen einer Reise auf sich und schaut oder gibt sich dem besuchten Ort nicht wirklich hin? Ist das alles nur Inszenierung, Selbstdarstellung - für den nächsten Facebookeintrag oder für die Nachbarn daheim?

Es sind sicherlich mehrere Faktoren, die eine Rolle spielen. Ich meine da spiegelt sich die Schnelllebigkeit unserer heutigen Gesellschaft in so einem Szenario wieder. Auch der Urlaub oder die Reise ist streng durchgeplant und organisiert, wird abgearbeitet, erledigt wie man es aus dem Arbeitsleben gewohnt ist. Dass viele Menschen keine echte Verbundenheit zur Natur haben, könnte auch eine Rolle spielen. Das Paradoxe daran ist, dass man sich zur Natur einerseits hingezogen fühlt und diese erleben will, dass man aber andererseits merkt, dass man als Mensch doch nur außen vor steht. Zudem ist die Naturgewalt vor der man steht manchmal so eindrücklich und so riesig, dass man sich als Mensch ganz klein und winzig manchmal sogar nichtig vorkommt. Für den einen oder anderen muss dies wohl eine sehr unangenehme Erfahrung sein, derer man durch die Weiterreise entfliehen will.

Hier möchte ich ein paar Gegenkonzepte anbringen, durch die man die Natur erfahren und erleben kann. Der Klassiker ist das Erwandern der Landschaft. Dadurch, dass ich aus eigener Kraft, zu Fuß, eine Gegend begehe, sei es für ein paar Stunden oder sogar Tage, findet fast wie automatisch eine Verbundenheit, oder nennen wir es ein Ankommen statt. Man wird Teil der Natur, die man durchwandert. Beobachtung ist ein weiteres Zauberwort für die Naturerfahrung, die auf vielerlei Art und Weise geschehen kann - vom Großen zum Kleinen, vom Berg bis zur Felswand, der Bewuchs, die Täler, die Tiere und Bäume, die Seen, Steine und Pflänzchen unter den Schuhen und all die Insekten – so kann mach sich immer wieder verschiedenen Eben hingeben, Zusammenhänge entdecken und Erkenntnis schöpfen. Dies bekommt einen umso größeren Wert, wenn man es teilen kann, sei es zu zweit oder in einer Gruppe, vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei und die Natur bietet so viel zu entdecken. Auch durchs Zeichen oder Malen entsteht eine tiefe Verbundenheit, die zugleich einen hohen Inneren, kreativen Anteil in einem aktiv werden lässt. Eine Alternative dazu ist die Fotographie, obwohl da Vorsicht geboten ist, das es nicht zu einem Fotorausch werden sollte.

Generell muss man sich trauen, das Prinzip von weniger ist mehr anzuwenden und sich statt vieler Orte lieber mehr Zeit für einzelne Plätze zu nehmen. Aus unserem Besuch am Lake Louise wurde ein kleiner Spaziergang, um den Menschenmassen zu entfliehen, der wiederrum zu einer Wanderung zum Lake Agnes Teahouse wurde und beflügelt von der Schönheit der Landschaft und den Erzählungen anderer Wanderer doch zu einer Kletterpartie auf einen markanten Felsvorsprung wurde. Auf das bekannte Motiv vom Seeufer habe ich verzichtet, trage jedoch ganz andere Bilder dieses Ortes mit mir mit.

 

Unsere Reise führte uns weiter zum Yoho National Park. Dieser liegt am Great Devine, der großen Wasserscheide Kanadas. Östlich davon fließen die Gewässer tausende von Kilometern in die Hudson Bay hinein, westlich kulminieren sie sich als Columbia und Fraser River. Zugleich ist es auch die Grenze zwischen den Staaten Alberta und British Columbia (BC). Dort verbrachten wir drei Tage auf einem Campingplatz und machten täglich mehrstündige Wanderungen. Beeindruckende Wasserfälle mit tosendem Donnern, blauschimmernde Gletscher, Baumgrenzen und der erste Schnee des Jahres (Anfang September!) begleiteten unsere Tage. Dort haben wir auch Campbell kennengelernt. Ein ausgewanderter Australier, der gut über 3 Jahre in Kanada nun lebt. Von ihm habe ich solche Sprüche gehört wie „BC stands for >Bring Cash<“ oder „A fed bear is a dead bear“ – ein gefütterter Bär ist ein toter Bär, mehr dazu später. Jedenfalls haben wir uns mit ihm gut über das Leben in Kanada sowie die Kultur hier unterhalten und er hat uns, wie ich finde, erschreckende Tatsachen über seine Auswanderung erzählen können. Er ist gelernter Apotheker mit jahrelanger Berufserfahrung. Um jedoch eine Arbeitslizenz als Apotheker zu bekommen musste er bisher unzählige Kurse und Tests belegen, darunter ein Sprachtest in Englisch, seiner Mutter- und Amtssprache! Diese kosteten dazu mehrere tausend Dollar, die er mit kleineren Aushilfsjobs und Arbeitsaufenthalten in Australien zusammengespart hatte. Seinen gelernten Beruf als Apotheker darf er in Kanada bisher immer noch nicht ausführen. Mir wurde klar, dass das Auswandern nicht nur ’Papiere besorgen und Sachen packen’ bedeutet, sondern das es auch mit Geld ansparen und hohen finanziellen und zeitlichen Investitionen verbunden ist – wie bei Campbell in BC; bring (C)ohle.

 

Der liebe Campbell nahm uns mit in die nächste Stadt namens Golden. Wir haben erfahren, dass dort Einheimische, also ehemals gereiste Wandergesellen leben, die sich niedergelassen haben. Recht zügig bekamen wir Kontakt und wurden herzlich zu Matthias, einem Tischlermeister und seiner Frau Ina eingeladen. Auf der Wanderschaft kam er für einige Zeit nach Kanada, was Ihm sehr gefiel. So setzte er sich das Ziel, nach der Wanderschaft dort hin auszuwandern. Seine Frau Ina ist ihm mehr oder weniger freiwillig gefolgt. So haben sie sich zuerst in Calgary und dann bis Golden durchgeschlagen. Matthias führt als Selbständiger eine Tischlerei, war jedoch gerade in der Umzugsphase seiner Werkstatt und hatte für mich nichts zum Arbeiten. Die Ina hingegen kümmert sich um die zwei Kinder und arbeitet nebenbei auf dem lokalen Campingplatz. Er hatte als Handwerker in Kanada keinerlei Schwierigkeiten als Arbeitnehmer und auch nicht als Selbständiger zu arbeiten. Bei Ina, einer in Deutschland ausgebildeten Krankenschwester sah es gleich wieder anders aus. Da verlangen die Behörden in BC eine teure und zeitaufwendige Nachschulung, die die finanziellen Möglichkeiten der Familie übersteigt. Dadurch kann sie Ihre Familie nur mit Nebenjobs unterstützen anstatt ihrem Beruf, ja ihrer Berufung nachzugehen; diese Enttäuschung konnte man sichtlich spüren. Zudem kam noch die weite Entfernung zur Familie in Deutschland zur Sprache. Da schwang eine große Schwere mit, so weit weg von seinen Verwandten zu sein und keinen in der Nähe zu haben in schwierigen Stunden. Zudem steigen die Flugpreise gewaltig in die Höhe, da die Kinder sehr früh schon den vollen Flugpreis bezahlen müssen. So sind mir die Kehrseiten des Auswanderns nochmal deutlich bewusst geworden, wenn man über die Traumbrille von 'Freiheit, Abenteuer und Neubeginn' hinüber schielt. Wir blieben bei Ina und Matthias insgesamt drei Tage, haben am Familienleben teil genommen, schöne Gespräche am Lagerfeuer geführt, Brennholz gestapelt, konnten unsere Wäsche machen und uns erholen.

 

Von Golden aus sind wir südlich Richtung Nelson getrampt. Nicht mehr von ganz hohen Bergen umgeben, konnten wir da noch das Ende des Spätsommers und die Wärme genießen. In Nelson besuchten wir einen gemeinsamen Freund, der in der Waldbrandbekämpfung arbeitet. Bei so vielen Wäldern und teilweise verheerenden Bränden, die ganze Landstriche und Regionen in eine einzige Smog- und Rauchwolke hüllen kann, sind die Waldfeuerwehrmänner eine spezialisierte Einheit, die Prävention betreibt und vor allen auf Abruf Waldbrände bekämpft.

Eine Besonderheit, die es BC immer wieder zu finden gibt sind 'Ghost Towns', also Geisterstädte. Die Besiedlung der Westküste von Amerika vor knapp 150 Jahren ist stark durch den Bergbau beeinflusst worden. Prospektoren, nicht nur nach Gold aber allen möglichen Metallen und Mineralien suchend, drangen in der Hoffnung auf schnellen Reichtum in entlegene, unbevölkerte Gebiete vor. War ein Metall-Vorkommen entdeckt, machten sich auch andere Siedler, Handwerker und Kaufleute auf den Weg dorthin. So sind schnell, teilweise innerhalb weniger Monate, kleine Städte mit mehreren tausend Einwohnern entstanden. Auf unserer Reise besuchten wir die Geisterstadt Sandon. Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Stadt mehr als 8.000 Einwohner, ein Postamt, zwei Banken, mehrere Hotels und Läden, zwei Dutzend Saloons und ein Rotlichtviertel. Es gab mehrere Silber- und Zinkmienen sowie zwei konkurrierende Eisenbahngesellschaften. Nach wenigen Jahren waren die meisten Minen jedoch ausgelaugt. Wirtschaftskrisen und ein Großbrand in der Stadt führten dazu, dass bereits 20 Jahr später ein Großteil der Einwohner wieder abwanderten. Der Zahn der Zeit, Naturkatastrophen und Vandalismus haben dem Städtchen so viel abgerungen, dass man sich das Ausmaß von Sandon ohne historische Fotos kaum vorstellen könnte. Nur gerademal eine Handvoll originaler Häuser stehen heute noch, darunter das Rathaus und das einzig gebaute Backsteinhaus in Sandon, das jetzt das Museum der Geisterstadt beherbergt.

An so einem Beispiel, finde ich, wird die Schnelllebigkeit im Westen deutlich. Diese drückt sich auch heute noch in einer oft sehr, sehr einfachen Bauweise der Häuser aus. Ich bin zwar nicht ein großer Fan des Steinhauses, doch mit dem Holzleichtbau in Kanada konnte ich mich nicht anfreunden. Auch was Energieeffizienz im Hausbau angeht habe ich kaum ein Bewusstsein wahrgenommen. Das Interesse für ökologische und natürliche Baumaterialien wie Lehm, Stroh, Holz- und Hanfdämmstoffe führt ein Nischendasein. 'Baulich gesehen ist Kanada noch ein Entwicklungsland' war der Kommentar eines deutschen, ausgewanderten Lehrers, dem ich nur zustimmen kann.

 

Als wir Nelson verlassen wollten, hatte ich wohl die intensivste Wildtierbegegnung. Als ich noch ein paar Mirabellen für unsere Abreise im Garten pflücken wollte, die gelblich-orange, süßlich und perfekt reif am kleinen Baum hingen, kam das Unerwartete. Zielbewusst schritt ich über die Terrasse Richtung Baum als ich eine Stimme im Hintergrund hörte. „Entschuldigung, ist da ein Bär in ihrem Garten?“ fragte eine Frau von der Veranda des Nachbarhauses. Erst als sie den Satz ein weiteres Mal wiederholt hatte begriff ich um was es ging. Trotzdem war ich verwirrt und schaute mich skeptisch und zugleich ahnungslos um, bis ich plötzlich einen riesigen Bären auf dem Mirabellenbaum sitzen sah! Genüsslich schnabulierte er mit seiner Schnauze die reifen Früchte direkt von den Ästen herunter. Mit langsamen Schritten ging ich rückwärts auf die Terrasse zum Haus hin. Zusätzlich bemerkte ich auch, dass es sich genauer genommen um eine Bärin handelte, da in unmittelbarer Nähe zum Mirabellenbaum noch zwei niedliche kleine Bärenkinder herumtollten. Was für ein herzzerreißender Anblick das gewesen ist und zugleich war es höchst gefährlich, da der Schutz der Kinder eine der größten Ursachen für Bärenangriffe sei. Zudem werden in vielen Kommunen Obstbaum-Besitzer dazu angehalten, reife Früchte von den Bäumen zu ernten damit verhindert wird, dass die Bären in die Vorgärten der Städte kommen. Entstehen dabei wiederholte Konflikte oder gar Attacken auf den Menschen, zieht der Bär meist den Kürzeren und wird eliminiert - A fed bear is a dead bear – eben!

 

Nach fast einem Monat voller Erlebnisse fuhren wir Mitte September mit der Fähre nach Vancouver Island, der Insel über die fast jeder in unseren Gesprächen schwärmte. Unser Ziel war Duncan, eine Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern. Dort sollte meine Freundin ein dreimonatiges Schulpraktikum absolvieren. Bleiben konnten wir in einer Gästehütte bei einer Bekannten von unseren Freunden. Ich habe angefangen Kontakte zu Holzhandwerkern zu sammeln und mich über die Arbeitsmöglichkeiten in der Gegend schlau zu machen. Recht schnell hatte ich verschiedene private Angebote zur Hand, jedoch reizte mich mehr der Gedanke in einen Betrieb zu gehen und einen tieferen Einblick in die kanadische (Arbeits-)Kultur zu bekommen. Ich bekam den Kontakt von John, einem deutsch-kanadischen Zimmermann, der für eine größere Zimmerei namens MacDonald & Lawrence arbeitete. Kurzerhand wurde ich engagiert, ohne jegliches Vorstellungsgespräch oder Bewerbung – das gute Wort von John und die Tatsache, dass ich ein deutscher Wandergeselle war, genügte um am nächsten Tag auf die Baustelle zu fahren.

Die neuen Erfahrungen ließen nicht lange auf sich warten. Neu war für mich die, in Deutschland eher ungewöhnliche, Arbeitszeit von Montag bis Donnerstag von 10 Std. pro Tag. An sich gar nicht mal so verkehrt dadurch ein langes Wochenende zu haben, wenn jedoch zusätzlich noch die Fahrzeit zu und von der Baustelle über zwei Stunden hinzukommt, hat man schnell einen 12-13 Stunden Tag zusammen und ist am Abend ganz schön geschlaucht. Auch habe ich gelernt, dass es in Kanada nicht nur üblich ist, sondern vom Arbeitgeber sogar erwartet wird sein eigenes Handwerkzeug sowie Handmaschinen zur Arbeit mit zu bringen und diese somit nur bedingt vom Betrieb gestellt werden. Dies hat einerseits den Vorteil, dass man über die Qualität und Art des Werkzeuges, mit dem man arbeiten will, selber entscheiden kann; sollte man mal den Arbeitgeber wechseln bleibt das Werkzeug im eigenen Besitz. Andererseits ist der Nachteil, dass man immer wieder investieren muss um sein Repertoire zu erweitern und dass man bestimmte Verschleißkosten selbst tragen muss. In der Praxis geht es teilweise soweit, dass die Handwerker sogar eigene Betriebsmittel wie Schrauben oder Dübel einsetzen. Auf jeden Fall ist die Erwartungshaltung des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer anders angesetzt als bei uns. Man merkte deutlich den freieren Liberalismus.

Als wandernder Handwerker habe ich für gewöhnlich nach kleineren Handwerksbetrieben gesucht, da man an solchen Orten noch handwerklicher arbeitet, eine persönliche Nähe zum Meister hat und dadurch Vieles in seinem Gewerk lernen sowie auch Persönliches mitnehmen kann. Bei der Zimmerei in Kanada ließ ich mich auf etwas Neues ein. Diese war ein größerer Betrieb mit ca. 50 Mitarbeitern, klar abgetrennten definierten Bereichen und mehreren parallel laufenden Aufträgen. Bis auf ein zufälliges, kurzes Händeschütteln habe ich die Betriebsleiter nicht kennengelernt. Collin, der Bauleiter und Dustin, der Polier waren meine Ansprechpartner für Fragen und Anregungen. Obwohl diese Einteilung und Hierarchie ganz üblich ist, habe ich mich sehr unwohl gefühlt, nicht zu wissen, für wenn ich wirklich arbeite. Noch unfassbarer fand ich den Prozess der Aufgabenverteilung, wo völlig undurchsichtig und über den eigenen Kopf hinweg entschieden wird, wo und wie man in der Firma eingesetzt werden soll. Dies ist ein gewöhnlicher Vorgang. In Kombination dieser zwei Tatsachen schien mir die Situation jedoch recht abstrakt und sinnentleert zu sein und anstatt mit vollem Herzen bei der Sache zu sein, wurde es mehr und mehr einfach nur ein Job.

Gut gefallen hat mir, dass ich durch den Betreib viele lokale Zimmerleute, kennengelernt habe. Somit bekam ich Einblicke in das Leben verschiedener kanadischer Handwerker. Zugleich waren es auch sozial wertvolle Kontakte, die ich auch außerhalb der Arbeitszeit pflegte. So gab es auf Festen und anderen Veranstaltungen immer wieder Begegnungen mit bekannten, freundlichen Gesichtern. In diesem Zusammenhang sei ganz besonders John, der Zimmerermeister erwähnt, über den ich den Job bekommen habe. Mit ihm habe ich auf der Hauptbaustelle anfänglich zwei Treppenreihen gebaut und auch viel Zeit auf dem Weg zur Baustelle verbracht; wir haben oft spannende Gespräche geführt. Einerseits hab ich ihm viel von der Wandertradition erzählt und etliche Fragen beantwortet, andererseits gab er mir spannende und wissensreiche Einblicke in die kanadische Kultur und Gesellschaft, da er als Deutsch-Kanadier in beider Paar Schuhe drin steht.

Ganz herzlich war auch die Bekanntschaft mit seiner Frau Michaela und seinen drei Kindern. So haben wir immer wieder Freizeit miteinander verbracht und Freundschaft geschlossen. Der Höhepunkt war gemeinsam einen Weihnachtstag miteinander zu feiern - ein gemütliches, warmes Beisammen sein mit der ganzen Familie. Ein deutsches Weihnachtsfest zu feiern ist ganz besonders wertvoll, vor allem wenn die Heimat ganz weit weg ist. Michaela ist ein weiteres Beispiel für die dunkle Kehrseite der Auswanderung. Als studierte, ausgebildete und erfahrene Realschullehrerin darf sie gerade mal als Aushilfslehrerin an einer Privatschule unterrichten. Anerkennung oder Weiterbildung sind laut ihrer Aussage aus finanziellen, zeitlichen und familiären Gründen und Umständen nicht möglich.

 

Ein unscheinbares, doch hochwertiges und elegantes Schild mit der Aufschrift 'Michael Moore Finewoodworking' ist mir in der Gegend von Duncan aufgefallen. Als ich eines Tages den Nachbarhof besuchte, ermutigte mich der dortige Landwirt bei Michel vorbei zu schauen. Von der Straße aus war bis auf das Schild nichts Deutliches zu sehen. Ich musste 50 Meter den Weg an einer Weide vorbei und in einem kleinen Wäldchen den Hang hinunter laufen bis ich dann vor Michaels Haus stand und klopfte. Es war schon Abend geworden und ein kleinerer Mann guckte durch die Seitenscheibe der Haustüre. Kurz nachdem er aufmachte und noch bevor ich etwas sagen konnte, sagte er: „Ah, hello. You must be a journeyman!?“ – „Hallo. Du bist bestimmt ein Wandergeselle!?“

Er ließ mich in sein Haus und wir hatten ein gutes Gespräch. Die Gestaltung des Hauses sowie die edlen Möbel haben mich beeindruckt. Ich habe schnell erkannt, dass Michael jemand ist, der das Handwerk sehr schätzt und es auch eindrücklich umsetzt. Er zeigte mir noch seine Werkstatt, die mich von der Ausstattung her sehr an meinen Ausbildungsbetrieb in der Schweiz erinnerte. Es war auch die bisher beste Werkstatt, die ich in Kanada sah. Sie war sauber, aufgeräumt, gut organisiert, geräumig und mit allem ausgestattet, was man so grundlegend für den Möbelbau braucht. Mir war klar, dass Michael ein Meisterhandwerker ist von dem man viel, viel lernen kann. Ich war schwer beeindruckt. Deswegen machte ich ihm beim Abschied deutlich, dass ich mich sehr freuen würde mit ihm zu arbeiten. Es hat keine zwei Tage gedauert bis Michael mir ein Arbeitsangebot machte und ich jederzeit bei ihm anfangen konnte. Das passte wunderbar mit dem Projekt in der Zimmerei, da der Innenausbau soweit abgeschlossen war; so trennte ich mich von der Zimmerei und fing eine Woche später bei Michael Moore an.

 

Auf Wanderschaft wird man, was Orientierung und Arbeitsumfeld angeht, oft ins kalte Wasser geschmissen oder hat nur wenig Zeit, sich in der Werkstatt oder mit der Arbeitsaufgabe vertraut zu machen. Diese Tatsache schult natürlich auch die innere Flexibilität und das Aufnahmevermögen. Bei Michael war es jedoch anders. Er legte mir einen Stapel verschiedenartiger Holzabschnitte hin und bat mich Schneidebrettchen daraus zu machen. Dies ist eine simple Arbeit, involviert jedoch grundlegende Maschinenkenntnis sowie Arbeitsschritte. Einmal mit der Werkstatt vertraut konnte ich relativ selbständig die Aufträge erfüllen. So habe ich ein bestehendes Stuhlmodel modifizieren sollen, um der Rückenlehne eine stärkere Krümmung zu verleihen und baute eine neue Pressform für die Vakuumpresse. Meine Hauptarbeit war jedoch die Herstellung eines größeren Einbauschranks mit seitlicher Schreibtischfläche und Regalen. Eine große Herausforderung war das Erlernen des kanadischen bzw. des Imperialen Maßsystems mit Inch (dt. Zoll) und Foot (dt. Fuß). Da diese nicht auf dem Zehnersystem (Dezimalprinzip), sondern als Bruch vom ganzen Zoll (bspl. 1/2 Inch; 7/8 Inch; 13/16 Inch) und als zwölftel zum Fuß (1 Foot = 12 Inch; 2 Foot = 24 Inch; usw.) gerechnet werden, musste ich oft viele komplizierte Brüche rechnen um meine Arbeitsmaße zu errechnen. Zum Feierabend merkte ich oft, wie meine Konzentration nachließ und das Rechnen richtig kompliziert und langsam wurde. Ich bekam den Eindruck, dass die amerikanische Holzindustrie ein sehr klares System in ihren Material- sowie Baumaßen verfolgt, die das systematische Bauen erleichtert. Zugleich habe ich erkannt, dass es manche Materialien und Holzprodukte in Europa gibt, die sich offensichtlich auf den amerikanischen Standard stützen (sei es aus Export- oder anderen Gründen) und deshalb für uns ungewöhnlichen Maße haben.

Michael war nicht nur ein guter Lehrmeister, sondern auch ein beeindruckender Tüftler und Perfektionist. Neben der Tischlerei hat er sich in den letzten Jahren eine Metallwerkstatt aufgebaut, in der er momentan hauptsächlich arbeitet. So habe ich von ihm erfahren wie er all seine Maschinen Stück für Stück erworben hat, sei es auf Auktionen oder durch Betriebsauflösungen. Die Maschinen waren teilwiese im maroden Zustand und Micheal hat sie selbst wieder restauriert und erneuert. Diese Hingabe zu seinem Werkzeug und den Maschinen war wirklich einmalig und es erstaunte mich sehr was man schaffen kann, wenn man sich mit einer Sache wirklich auseinandersetzt und sich ihr annimmt. Ich habe bei Michael sehr viel mitgenommen, viel gelernt und dass nicht nur ihn meinem Tischlerhandwerk sondern weit darüber hinaus.

 

Das halbe Jahr Kanadareise war eine sehr gelungene Aktion! Es war eine gute Mischung aus Reisen und Natur erleben, Arbeitserfahrung sammeln und die Kultur kennen lernen, unterwegs sein und auch mal länger an einem Ort verweilen.

Starke Eindrücke blieben von den Auswandererfrauen, die in meinen Augen enorme Opfer bringen. Nicht nur was ihre nicht ausgeübten Berufe, ihre Berufung angeht, sondern auch die zusätzliche Entfernung zur Familie ist eine nicht zu unterschätzende Belastung. Trotz des Familienglücks, das sie sichtlich genießen, konnte ich einen Knick, eine gewisse Schwere und Traurigkeit wahrnehmen. Somit kann ich nur das Beste hoffen, ihnen Kraft und Mut wünschen, dass sie ihre Stärke finden um auch ihren, ach so wichtigen, eigenen Weg in diesem fremden Land gehen können.

 

Ich bin dankbar, dass dieser Traum von Kanada durch Solveig nochmals vor meine Augen trat und auch froh diesem Impuls nachgegangen zu sein. Damals so wie heute hat mich das Thema Auswanderung beschäftigt. Sich damit auseinander zu setzen war ein großer innerlicher Teil dieser Reise. Sei es durch die verschiedenen Begegnungen mit Menschen, Gespräche mit Solveig oder eigenen Reflektionen. Im Gegensatz zu früher konnte ich so manches jetzt eher nüchtern betrachten. Im letzten Abschnitt meiner Wanderschaft zu stehen dürfte wohl auch eine Rolle gespielt haben. Der Zauber, die Verführung des Auswanderns ist nicht nur einem Pragmatismus gewichen. Ich würde es lieber so bezeichnen, dass einerseits die Palette der Ansichten, das für & wider auf das Thema reichhaltiger und umfassender geworden ist, andererseits hat sich auch mein Standpunkt und Denkweise gewandelt - weg vom wilden Leben eines jungen Singles und hin zu einer Zweisamkeit, Verantwortung für eine Beziehung und einem zukünftigen Familienglück. So kann ich sagen, dass mir diese Reise geholfen hat anzukommen, JA zu sagen zu einer Heimat in Deutschland und einem guten Gefühl die Kluft an den Nagel zu hängen um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Ich muss nicht Auswandern um glücklich zu werden. Andere Werte, wie Familie, Zufriedenheit in der Beziehung, kulturelle Verbundenheit zählen mehr als irgendwo am westlichsten Zipfel der westlichen Welt Pionier zu sein und sich zu behaupten!